Serie zur B5: Ein schwerer Unfall auf der Bundesstraße 5 hat das Leben von Rebecca Dithmer und ihrer Familie auf tragische Weise verändert
Die Bundesstraße 5 gilt als wichtigste Verkehrsader Nordfrieslands – und als gefährlichste. Immer wieder ereignen sich hier schwere Unfälle – nicht wenige mit tödlichem Ausgang. Warum passiert hier so viel? Wie kann man die Strecke sicherer machen? Fragen wie diesen gehen wir auf den Grund. In unserer neuen Serie Risiko-Piste B 5 kommen Unfallopfer, Polizisten, Rettungsassistenten, Ärzte und Verkehrs-Experten zu Wort.
Husum /Tönning
Das grelle Neonlicht tut ihr in den Augen weh. Links und rechts neben sich erkennt sie nur schemenhaft blaue Handschuhe. Ein Moment, an den sich Rebecca Dithmer noch gut erinnern kann. Und an das Propeller-Geräusch des Rettungshubschraubers, mit dem sie in die Heider Klinik geflogen wurde. Auch das laute Stimmengewirr um sie herum, während sie eingeklemmt hinter dem Steuer ihres völlig zerstörten Ford Ka saß, wird sie wohl nie vergessen. Der Unfall auf der Bundesstraße 5 hat das Leben der 27-Jährigen komplett verändert. Doch die Tönningerin war nicht allein in dem Kleinwagen, als es passierte. An jenem trüben Novembertag saß ihr Bruder neben ihr. Kevin überlebte das Unglück nicht – er war erst 19 Jahre alt.
Mehr als acht Monate ist das jetzt her.
Kevin hatte gerade nach langer Suche einen Ausbildungsplatz in der Altenpflege gefunden. Was ihm noch fehlte, waren vernünftige Arbeitsschuhe. Die wollte er in Husum kaufen und sich dabei von seiner Schwester beraten lassen. Die beiden setzten sich ins Auto und fuhren los. Es war viel Verkehr auf der Bundesstraße 5 an diesem Freitagvormittag. Zwischen Tönning und Friedrichstadt – genauer gesagt zwischen Bütteleck und Reimersbude – bildete sich auf der Gegenspur ein kleiner Stau, weil ein Autofahrer links abbiegen wollte. Ein VW-Bus-Fahrer bemerkte das offenbar zu spät. Rebecca Dithmer sah, wie ein Wagen plötzlich in den Gegenverkehr ausscherte. Sie versuchte in diesen schicksalhaften Sekunden noch verzweifelt, rechts auf eine Auffahrt einzubiegen. Aber das gelang ihr nicht mehr. Der Kleinbus prallte mit hoher Geschwindigkeit mit ihrem Ford Ka zusammen. Der Knall war ohrenbetäubend. Der Kleinwagen wurde zusammengedrückt wie eine Konserve.
Trotz der schweren Verletzungen war Rebecca Dithmer die meiste Zeit bei vollem Bewusstsein. „Ich habe mitbekommen, wie einige Autofahrer schimpfend auf den Unfallverursacher zugingen und wie mein Bruder aus dem Auto genommen und versorgt wurde“, berichtet sie später. Bevor die Feuerwehrleute die Rettungsschere ansetzten, um sie zu befreien, bekam die junge Frau ein starkes Beruhigungsmittel – die Schmerzen wären sonst zu heftig gewesen. Eine Unfallhelferin habe ihre Eltern angerufen und ihr kurz darauf das Mobiltelefon in die Hand gedrückt, sodass sie ihrem Vater selbst mitteilen konnte, was passiert war. „Als ich mit ihr telefoniert habe, dachte ich noch, alles sei halb so schlimm, weil sie ja noch normal mit mir geredet hat“, berichtet Horst-Günter Dithmer. Zu dem Zeitpunkt versuchte der Notarzt bereits, seinen Sohn zu reanimieren. Doch er konnte dem jungen Mann nicht mehr helfen. Als die Eltern zur Unfallstelle eilten, sahen sie von Weitem schon die vielen Blaulichter. „Wir stiegen aus, und der Seelsorger kam auf uns zu – da wusste ich, dass etwas Furchtbares passiert ist“, sagt Horst-Günter Dithmer. Fahrer und Beifahrer des VW-Busses wurden leicht verletzt und per Rettungswagen ins Husumer Krankenhaus gebracht.
Zahl der Unfälle auf der B5 steigt
Zwischen Husum und Tönning ereigneten sich 2014 insgesamt 57 Unfälle, dabei wurden 35 Menschen verletzt, zwölf davon schwer und vier starben. 2015 waren es 73 Verkehrsunfälle mit 59 Verletzten. Elf davon zogen sich schwere Verletzungen zu. Ein Mensch starb – Rebeccas Bruder. „Bei dem tödlichen Verkehrsunfall (B 5 Büttel/Abschnitt 530) kommt ein Geschwindigkeits- beziehungsweise Abstandsverstoß als Ursache in Betracht“, heißt es in einer Mitteilung der Polizeidirektion Flensburg. Die Zahl der Unfälle hat sich in diesem Jahr weiter erhöht. 15 waren es bis Ende Juli allein zwischen Husum und Tönning. 19 Menschen wurden verletzt, fünf davon schwer.
Einen Monat verbrachte Rebecca Dithmer im Krankenhaus. Sie musste mehrfach operiert werden. Die meisten Probleme bereite ihr der komplizierte Bruch des Sprunggelenks, erklärt sie. Noch immer ist die Tönningerin auf den Rollstuhl angewiesen. Zweimal wöchentlich wird sie von einer Physiotherapeutin betreut, ansonsten kümmern sich ihre Eltern um sie. „Ich musste nach dem Unfall meine Wohnung aufgeben und wieder zu meinen Eltern ziehen. Mehrfach habe ich einen Antrag auf Pflegestufe gestellt, der wurde immer wieder abgelehnt“, erklärt die 27-Jährige, die in ihrer Ausbildung zur Pflegeassistentin um ein Jahr zurückgeworfen wurde. „Wir fühlen uns vom System im Stich gelassen. Die Pflegeversicherung ist doch eine Pflichtversicherung – warum will jetzt niemand mehr für die Kosten aufkommen?“, fragt die junge Frau. Die Ärzte wissen noch nicht, ob sie wieder vollständig gesund wird. Und wenn, dann kann sich der Genesungsprozess bis mindestens März 2017 hinziehen. Außerdem gibt es noch viele andere Baustellen für die Familie. Etwa, dass ihnen bis heute nicht Einblick in den Unfallbericht gewährt wurde. „Das ist versicherungstechnisch ein Riesenproblem für uns“, macht Horst-Günter Dithmer deutlich.
Nach all den Strapazen sehnen sich die Dithmers danach, dass der Albtraum endlich ein Ende nimmt und der Fall aufgeklärt wird. Warum sich die Familie nach einem Facebook-Aufruf unserer Zeitung zu Wort gemeldet hat, bringt Rebecca Dithmer mit einem Satz auf den Punkt: „Ich möchte nicht, dass so etwas noch mehr Menschen passiert und mein Bruder umsonst gestorben ist.“
Doch manchmal beschreitet das Schicksal merkwürdige Wege. Noch auf der Intensivstation erfuhr Rebecca Dithmer, dass sie in der fünften Woche schwanger ist. Am 15. Juli brachte sie einen gesunden Jungen zur Welt.
Quelle:
shz / Husumer Nachrichten vom 03.08.2016 / Text: Patricia Wagner